Is it? Or is it not? Beitrag
zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der dekolonialen Theorie
1. Einleitung und politischer Anspruch:
Dieser Text bezieht sich
auf aktuelle Debatten in der Wiener Linken, er ist als Reaktion auf Konflikte
im Umfeld des „Europäischen Instituts für Progressive Kulturpolitik“ (EIPCP) zu
lesen und soll einen Beitrag zur differenzierten Auseinandersetzung mit
Antisemitismus in der dekolonialen Theorie sowie speziell im Umfeld
des „Projektes Modernität/Kolonialität“ leisten. Die Diskussion in Wien
entzündete sich vor ungefähr 1,5 Jahren an der Akademie der Bildenden Künste an
Kontroversen über antisemitische Deutungsmuster und problematische Israelpositionierungen
in Texten des dekolonialen Theoretikers Walter Mignolo und wurde im April 2012
mit einer diskursiven Intervention von Eduard Freudmann an eine breitere
Öffentlichkeit getragen.
Mein Beitrag knüpft an diese Intervention und speziell an Ivana Marjanovićs
Analyse des umstrittenen Textes „Dispensable
and Bare Lives. Coloniality and the Hidden Political/Economic Agenda of
Modernity“
an und beschäftigt sich ebenfalls mit den strittigen Teilaspekten der
dekolonialen Kritik. Der besagte Text ist Teil einer Spezialausgabe des
dekolonialen Internetjournals „Human Architecture“, die sich aus den Beiträgen
der 2007 durchgeführten Konferenz „The
post September 11 New Ethnic/Racial Configurations in Europe and the United
States: The Case of Anti-Semitism” zusammensetzt. Ich analysiere vier
ausgewählte Beiträge dieser Ausgabe und fokussiere auf deren spezifische
Auseinandersetzung mit Antisemitismus sowie auf Israelpositionierungen (vgl.
Ellis 2009; Grosfoguel 2009, Mignolo
2009a, Slabodsky 2009). Vor allem gehe ich kritisch auf die Arbeiten von Walter
Mignolo und Ramón Grosfoguel ein und setze diesen Fokus, da sich in den Texten
beider Theoretiker meines Erachtens problematische Verquickungen der Analyse
von Modernität/Kolonialität mit der Diskussion von globalem Antisemitismus
sowie der geo-politischen - und dabei vor allem neo-kolonialen - Bedeutung des
israelischen Staates finden. Die von mir kritisierten verkürzten Positionen der
beiden Autoren betrachte ich dabei als spezifisch für de- und auch
post-koloniale linke Debatten im Kontext aktueller israelkritischer Boykott-
und Desinvestitions-Kampagnen, bei denen dem Staat Israel mitunter die Rolle der kolonialen Supermacht mit
Bedrohungspotenzial für den Weltfrieden zugeschrieben wird.
Es soll bei meiner
kritischen Auseinandersetzung nicht darum gehen, dekoloniale Ansätze und
Standpunkte zu desavouieren oder hier das falsche Bild zu transportieren, der
gesamte theoretische Ansatz würde auf Israel und damit verbundene Diskussionen um
Counter-Terrorismus, antimuslimischen Rassismus sowie globalen Antisemitismus
fokussieren. Viel prominenter als im lateinamerikanischen Kontext, in dem die
dekoloniale Perspektive entwickelt wurde, sind solche Debatten im
Überschneidungsfeld de- beziehungsweise post-kolonialer Kritik und politischer
Praxis im angloamerikanischen und europäischen Raum. Um also einer anglo-
beziehungsweise eurozentristischen Lesart meines Textes entgegen zu steuern,
beginne ich mit einem kurzen Abriss dekolonialer Auseinandersetzungsfelder und
deren politischer Impulse für linke Gesellschaftskritik.
Spezielles Augenmerk liegt dabei auf dem Umfeld des „Projektes
Modernität/Kolonialität“, das sich mit der Ko-Konstituierung von Moderne und
Kolonialität auseinandersetzt. Im Anschluss diskutiere ich die meiner Ansicht
nach problematischen Elemente aktueller dekolonialer Debatten um globalen
Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Israel und schlage das Konzept
des „strukturellen Antisemitismus“
als Analysetool vor, um diese zu erfassen. In meiner Diskussion gehe ich
konkret auf die historisch-genealogische Auseinandersetzung mit der
antisemitischen Rassisierung von Jüdinnen und Juden sowie auf die Rolle des
israelischen Staates in den Analysen ein. Als symptomatisch betrachte ich dabei
das Negieren von aktuellem Antisemitismus und die Konstruktion von Israel als
„Täterstaat“ und „Vorhut“ des kapitalistischen neo-kolonialen Weltsystems.
Abschließend spanne ich den Bogen zurück zu den aktuellen Auseinandersetzungen
in Wien und schlage potenzielle Themenfelder für weiterführende Debatten vor.
In diesem Kontext möchte ich mittels einer kurzen Reflexion über spezifische
Dynamiken postnazistischer innerlinker Debatten um Antisemitismus eine weitergehende
Diskussion über auslösende Momente und „Dead-Ends“ der Auseinandersetzung
anregen.
2. Das Projekt Modernität/Kolonialität
als politisches Theorieprojekt und antirassistische Epistemologie der Befreiung
Das „Projekt
Modernität/Kolonialität“ ist ein dem postkolonialen Theoriespektrum sowie den
Cultural Studies verwandtes politisches Theorieprojekt, das durch den Einbezug
dependenztheoretischer und weltsystemanalytischer Ansätze an einer
materialistisch (und lokal) verankerten Kritik und Rekonzeptualisierung des
euro- und anglozentristischen Projekts der Moderne arbeitet. Drei zentrale
Theoretiker des Ansatzes sind Enrique Dussel, Aníbal Quijano und Walter Mignolo
(vgl. Garbe 2012: 97). Durch den Einfluss des ersteren ist dekoloniale Kritik
von der lateinamerikanischen Befreiungsphilosophie geprägt und beschäftigt sich
dementsprechend auch mit Möglichkeiten der Selbst-De-Kolonisierung im
neokolonialen (sprich globalisierten, neoliberalen) Weltsystem. Daher versteht
sich das Projekt auch nicht als rein akademische Veranstaltung, sondern sucht
die Verbindung zu sozialen Bewegungen sowie die Auseinandersetzung mit
aktivistischer, nicht-akademischer Wissensproduktion.
Ein starker Fokus liegt auf
der Kritik der (europäischen) Moderne und deren historischem Zusammenwirken mit
Imperialismus, Kolonialismus und „modernen“ biologistischen Rassismen.
Modernität/Kolonialität wird dabei als ein globales und auf Machtasymmetrien
basierendes Projekt analysiert, in dem
Eurozentrismus als „moderne/koloniale Wissens- Repräsentations- und
Reproduktionsform“ (ebd.: 90) fungiert. Kurz zusammengefasst meint
Dekolonialität also das Aufzeigen und die Analyse von epistemischer Gewalt und
deren materieller Einbettung in der kolonialen Moderne sowie die Erarbeitung
eines „epistemischen Ungehorsams“ zu deren Überwindung (vgl. Mignolo 2011). Diese
politische Aufforderung zur kontinuierlichen Auseinandersetzung mit
Eurozentrismus und epistemischer Gewalt sowie das Zusammendenken von
Ausbeutung, materieller Ungleichheit und deren ideologischem Überbau, eröffnet
meiner Meinung nach wichtige Perspektiven für linke Politik, welche eine
Reflexion über die eigene Verstrickung in post-koloniale Rassismen
in einem postnazistischen Raum ermöglichen. Dekoloniale Ansätze arbeiten an
einer „Entkoppelung“ [„de-linking“] von westlichen, universalistischen Erzählungen und an der Entwicklung
einer „Epistemologie der Grenze“ [„border thinking“], die von den Erfahrungen rassisierter Subjekte
ausgeht: „Die Epistemologie der Grenze geht mit der Dekolonialität Hand in
Hand, denn die Dekolonialität konzentriert sich darauf, die Bedingungen der
Auseinandersetzung zu verändern, und nicht nur deren Inhalt. (…) Man muss sich
auf das Reservoir jener Lebensformen und Denkweisen hin bewegen, die seit der
Renaissance von der christlichen Theologie ausgeschlossen wurden und von der
säkularen Philosophie und den Wissenschaften ausgeschlossen blieben“ (ebd.: 2).
Wichtiger Teil des politischen Projektes – und zentral in den Arbeiten von
Walter Mignolo - ist daher die Dekonstruktion moderner, kolonial-rassistischer
und okzidentalistischer Epistemologie(n) und die Arbeit an einer nicht-eurozentristischen
und rassistischen epistemologischen Perspektive; dies umfasst die
Entwicklung einer „Grammatik
der Dekolonialität“ ebenso wie die Auseinandersetzung
mit „postokzidentaler Kritik“ (vgl. Mignolo, 2002). Denn,
so Mignolo, „Dekolonialität [kann] weder Kartesianisch noch
Marxistisch sein. (…) Der Ausgangspunkt der Dekolonialität in der dritten Welt
verknüpft sich mit dem ´migrantischen Bewusstsein´ in Westeuropa und den USA“,
und findet sich „in den
Verbreitungsrouten des dekolonialen Denkens und des Grenzdenkens“ (Mignolo 2011: 2).
Prinzipiell erteilt die dekoloniale
Perspektive in Europa entwickelten gesellschaftskritischen Ansätzen und Konzepten
jedoch keine generelle Absage und Dussel sowie auch Quijano beziehen sich
beispielsweise auch dezidiert auf marxistische Ansätze wie Dependenz- oder
Weltsystemtheorie. Diese werden aber bei Quijano immer lokalisiert, also an der
lokalen (peruanischen) empirischen Realität geprüft (vgl. Garbe 2012: 112).
Allerdings lassen sich bezüglich der Rezeption beziehungsweise Abgrenzung von
europäischen oder amerikanischen Theoriekonzepten unterschiedliche Zugänge
ausmachen. Mignolo stellt mit seiner Arbeit an einer „postokzidentalen“
Epistemologie eine eher euro- beziehungsweise anglo-skeptische Position
innerhalb des Rezeptionsspektrums dar, die zuweilen auch ins Dichotomische
kippt. Beispielhaft hierfür ist die Auseinandersetzung des Autors mit dem
Moment des Widerstandes, also der De-Kolonisierung (der eigenen Person, der
Wissensproduktion, der gesellschaftlichen Verhältnisse, etc.), die sich ja
nicht zuletzt aus der individuellen wie kollektiven (und kollektivierten)
Erfahrung des Rassisiert-Werdens speist. In diesem Zusammenhang entwickelt
Mignolo die interessante These, dass richtungsweisende europäische Gesellschaftkritik
und Emanzipationsbestrebungen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert aus
jüdischen Subjektpositionen entstanden. Konkret bezieht er sich dabei auf Marx
und Freud und sieht deren Arbeit an universalistischen Emanzipationsideen darin
begründet, dass beide mit antisemitischer Diskriminierung oder in Mignolos
Worten mit „rassisierten / rassisierenden Differentialen“ konfrontiert waren.
Die daraus entwickelte, anti-partikularistische Gesellschaftsanalyse und
–kritik, bezeichnet er daher als „innere (inner-europäische, J.E.)
De-Kolonisierung“. Allerdings endet seine Argumentation apodiktisch und
schließt aus, dass eine Übertragung marxistischer Konzepte auf Kämpfe der
De-Kolonisierung möglich sei. Dies sei zuvorderst der Tatsache geschuldet, dass
die eurozentristische Perspektive nicht überwunden werden konnte und es daher
unmöglich gewesen sei, die Parallelen und Differenzen von innereuropäischer
Ungleichheit und kolonialer Unterdrückung zu sehen (vgl. Mignolo 2007b: 486).
Damit lässt er allerdings frühe Auseinandersetzungen mit Kapitalakkumulation,
Imperialismus und Kolonialismus, wie sie beispielsweise Rosa Luxemburg in ihrer
Imperialismustheorie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte,
unbeachtet. Auch Hannah Arendts Analyse des Zusammenhangs von Imperialismus,
Kolonialismus, Antisemitismus und Rassismus, die ihrerseits auf Luxemburg
aufbaut, wird ausgeklammert (vgl. Arendt 1986). Zudem greift die Kritik zu
kurz, da sie den Einfluss von „Travelling Theories“ (Said 1983) und damit die
globale Verwobenheit von Wissenproduktionen negiert. Die Tendenz, bei der – notwendigen – Kritik an
eurozentristischem Rassismus dichotomisierend und einem manichäischen Weltbild
folgend vorzugehen, wurde auch im Zuge der aktuellen Wiener Auseinandersetzung
kritisch diskutiert. So merken Jens Kastner und Tom Waibel an, dass Mignolo
„westliches Wissen“ und „westliche Gesellschaftskritik“ mitunter als
abzulehnenden monolithischen Block behandelt, ohne dabei zu reflektieren, dass
gleichzeitig ein starker Bezug auf die kritisierten Wissensbestände – wie den
Marxismus beispielsweise – besteht.
Im folgenden inhaltlichen
Hauptteil beschäftige ich mich mit einem speziellen Aspekt eines solchen
dichotomischen Zugangs zur gesellschaftskritischen Wissensproduktion und illustriere dabei zwei problematische Argumentationsstränge in den Texten von Walter
Mignolo und Ramón Grosfoguel; zum einen interessiert mich die
historisch-genealogische Diskussion der Rassisierung von Jüdinnen und Juden,
zum anderen die spezifische Rolle, die dem israelischen Staat global
zugeschrieben wird. In beiden Diskussionen kippt die Analyse der Autoren,
sobald sie sich israelkritisch positionieren, in eine polemische Richtung. In
der Folge zeigen sich Deutungsmuster, die sich meiner Beobachtung nach in
verschiedensten anti-, de- oder postkolonialen sowie auch in antiimperialistischen
politischen Positionierungen wiederfinden und strukturell antisemitische
Elemente beinhalten, bei denen ein monolithisch konstruierter,
hegemonial-rassistischer „Westen“ mit jüdischen Positionen sowie mit dem Staat
Israel amalgamiert wird.
3. Dekoloniale Debatten um
Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Israel nach dem elften September
2001
Als Reaktion auf den von der
Bush-Administration nach den Anschlägen auf das World Trade Center
proklamierten „Krieg gegen den Terror“, geht es im weiteren personellen Umfeld
des Projektes Modernität/Kolonialität in den letzten Jahren verstärkt um die
kritische Auseinandersetzung mit
neo-kolonialer Geopolitik. Ab 2006 wurden dazu im Umfeld des Editorial
Boards des dekolonialen Internetjournals „Human
Architecture“ mehrere internationale Konferenzen organisiert; zwei fanden
zum Thema anti-muslimischer Rassismus statt und eine fokussierte auf globalen
Antisemitismus nach 9/11. Die Beiträge dieser 2007 durchgeführten Konferenz „The post September 11 New Ethnic/Racial
Configurations in Europe and the United States: The Case of Anti-Semitism”
erschienen gesammelt in der siebten Ausgabe des Journals (vgl. Tamdgidi et al.
2009) und stellen die Texte dar, auf ich mich in meiner Auseinandersetzung
hauptsächlich beziehe (vgl. Ellis 2009; Grosfoguel 2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009).
Vorab ist zunächst
festzuhalten, dass sich in den hier kritisch diskutierten Texten durchaus wichtige
theoretisch-politische Analyseperspektiven für die Auseinandersetzung mit dem
Zusammenhang von biologistischem Rassismus/Rassisierung und
Modernität/Kolonialität finden. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wird das
Verhältnis von kolonialem Rassismus und Antisemitismus aus einer
historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet und die Genealogien
der jeweiligen Rassisierungsformen nachgezeichnet. Darüber hinaus werden die
Transformationen von antimuslimischem Rassismus und globalisiertem
Antisemitismus im Lichte der diskursiven Feind-Verschiebungen nach 9/11
diskutiert. Dieser doppelte Auseinandersetzungsfokus muss dabei als Reaktion
auf den hegemonial werdenden anti-muslimischen Rassismus sowie als Beitrag
zu aktuellen Diskussionen um Israel
sowie Divestment- und Boykott-Kampagnen in postkolonialen politischen Kontexten
gesehen werden. Spätestens ab dem Libanon-Krieg 2006 gewinnen diese Kampagnen
in europäischen und amerikanischen linken/linksradikalen Kontexten an Relevanz,
wobei stark auf den anti/kolonialen Charakter des Nahost-Konflikts fokussiert
wird.
Nachdem sich alle von mir rezipierten Texte politisch (und dezidiert
israelkritisch) positionieren, vermischen sich zwei unterschiedliche Ebenen:
Grundsätzlich wird die Herausbildung des modernen biologistischen Rassismus und
Antisemitismus aus einer dekolonialen Perspektive diskutiert, die euro- und
anglo-zentristische Wissensproduktion durchkreuzt und durch die historische
Schwerpunktsetzung wichtige Beiträge zu einer genealogischen Betrachtung
unterschiedlicher Rassisierungsmechanismen leistet. Insbesondere Mignolos
Beitrag „Dispensable and Bare Lives“ eröffnet eine interessante Perspektive,
indem er kolonialen Rassismus und Antisemitismus als ideologischen Überbau der
kapitalistisch-imperialistischen europäischen Moderne analysiert. Allerdings,
und dies ist dem speziellen politischen Fokus der Beiträge geschuldet,
vermischen sich in den Texten epistemologisch-theoretische Überlegungen mit
israelkritischen Positionierungen sowie mit Analysen der aktuellen politischen
Lage in Nahost. Im Zuge dieses oft nicht explizierten Themenswitchings wird, so
meine Kritik, polemisch anstatt analytisch argumentiert. Dabei werden (nett
ausgedrückt) unzulässige Analogien - wie beispielsweise zwischen NS und dem
israelischen Staat - bemüht sowie historisch gewachsene antisemitische
Deutungsmuster auf aktuelle Realpolitik übertragen. Derartige diskursive
Interventionen sind meines Erachtens Anknüpfungspunkte für strukturell
antisemitische Argumentationslinien und dass, wann und wie das passiert, will
ich im Folgenden anhand einer eingehenderen Darstellung der rezipierten Texte
aus der genannten Spezialausgabe zur Diskussion stellen. Ich beginne mit einer
Kritik an Walter Mignolo und illustriere seine historisch-genealogische
Diskussion der diskursiven Figur „Jüdin/Jude“ und deren Rolle im Prozess der
Modernisierung / Kolonisierung sowie der damit verbundenen Herausbildung eines modernen
biologistischen Rassismus. Diese setze ich einen kritischen Abgleich mit meiner
Meinung nach differenzierter argumentierenden Beiträgen (zum Beispiel Slabodsky
2009) und will dadurch aufzeigen, dass Elemente von Mignolos Diskussion
insofern problematisch sind, als sie nicht historisch-analytisch, sondern unter
Rückgriff auf antisemitische Deutungsmuster argumentieren (vgl. hierzu auch die
Kritik von Ivana Marjanović 2012).
3.1. Modernität / Kolonialität: Genealogien der Rassisierung,
„Constantinian Jews“ und Grenzen der Analyse
Prinzipiell beschäftigt
sich Mignolo mit Genealogien der Rassisierung innerhalb dessen, was er als
„koloniale Matrix“ bezeichnet und analysiert den Übergang von religiösem
Othering zu biologistischen Rassisierungsprozessen ab dem ausgehenden 15.
Jahrhundert. Diesen diskursiven Prozess setzt er dabei in Relation zu
ökonomischen Veränderungen, namentlich zur beginnenden Herausbildung des
imperialistisch-kolonialistischen Weltsystems. Eine ausführliche Diskussion des
Textes findet sich in Ivana Marjanovićs Beitrag, weshalb ich nur kurz dessen
Hauptargumente zusammenfasse und danach stärker auf andere Beiträge der
Spezialausgabe eingehe, um meiner Ansicht nach verkürzt übernommene Argumente
kritisch zu beleuchten.
Bei seiner Illustration der
unterschiedlichen Rassisierungsgenealogien unterscheidet Mignolo im Anschluss
an Hannah Arendt zwischen „überflüssigem“ und „nacktem“ Leben, wobei ersteres
ein Produkt des ideologischen Überbaus zur ökonomischen Ausbeutung rassisierter
kolonisierter/versklavter Kollektive ist und zweiteres die Konstruktion des
europäischen jüdischen Kollektivs als „prototypische Andere“ im Zuge moderner
Nationenbildung bezeichnet (Mignolo 2009: 76f). Mit Bezug auf Aimé Césaires
„Choc en Retour“ verknüpft er schließlich die Herausbildung der „kolonialen
Matrix“ mit der Shoah, indem er NS und eliminatorischen Antisemitismus als
Rückspiegelung kolonialer Gewalt auf Europa betrachtet. Diese Rückspiegelung
nennt er „Bumerang Effekt“, lässt dabei allerdings unter den Tisch fallen, dass
sich diese Bezeichnung nicht bei Césaire, sondern bei Arendts Analyse der
Ursprünge von Kolonialismus, Imperialismus und totaler Herrschaft findet (ebd.:
81; vgl. bei Arendt 1951: 206, 223).
Die Rassisierung unterschiedlicher
Kollektive in der kolonialen Moderne zu analysieren und damit in einen
historisch-ökonomischen Kontext zu setzen, eröffnet ganz prinzipiell eine
wichtige politische Perspektive. Gerade im vergleichenden Nachzeichnen des
diskursiven Shifts von religiösem Othering zu einem
rassisierenden/biologistischen im Kontext der europäischen Expansion und
Kolonisierung, liegt ein Denkansatz, der in politischen Auseinandersetzungen
nicht fehlen darf, wenn die eigene Verstrickung in post-koloniale Rassismen
reflektiert werden soll. Allerdings analysiert Mignolo in seiner Conclusio die
jüdische Emanzipation im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, im Zuge derer
eine säkulare jüdische Identität [„Secular Jewness“][sic!] entsteht, als historischen Schlusspunkt
der Rassisierung, da – so die Argumentation - jüdische Kollektive in der Folge
Teil des „weißen“ Kollektivs wurden. Dabei ignoriert er jedoch die Zwangslogik antisemitischer
Rassisierung, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur jüdischen Emanzipation
leistete, da diese auch als Projekt jüdischer Assimilation zur Vermeidung anhaltender Diskriminierung verstanden
werden muss (für eine ausführliche historische Darstellung dieser Dynamik am
Beispiel Deutschland vgl. Volkov 2000). Und auch die differentielle Inklusion
im Zuge der jüdischen Emanzipation und Assimilation ist historisch betrachtet
eine begrenzte und von kurzer Dauer, oder, wie Hannah Arendt bemerkt, „wenn
Assimilation die Aufnahme von Juden in die nichtjüdische Gesellschaft bedeuten
soll, so hat es eine Assimilation für die Massen selbst des emanzipierten
Judentums nur sehr sporadisch gegeben“ (Arendt 1986: 193) – spätestens aber mit
der Radikalisierung des Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert ist diese
Phase endgültig vorbei und die eliminatorische Wendung des antisemitischen
Ressentiments kündigt sich an. Mignolo allerdings setzt diese – bekanntlich vor der Shoah endende - Periode als den
Beginn einer Distinktion unterschiedlicher Rassisierungsformen und den
Ausgangspunkt der „Kompliz_innenschaft“ zwischen jüdischem Kollektiv und
westlichem Imperialismus (Mignolo 2009 86f). Die diskursive Entwicklung eines
eliminatorischen Antisemitismus sowie dessen Materialisierung im NS werden dann
in der weiteren Argumentation ausgespart. Insofern blendet Mignolo nicht nur
die Auslöschung des europäischen Judentums und die industriell organisierte
Ermordung von 6 Millionen Menschen aus, sondern auch deren ganz klar
biologistisch-rassenbasierte Grundlage. Im Prinzip endet die Argumentationsline
dann damit, dass der mit der kolonialen Matrix verwobene Antisemitismus mit dem
Aufgehen jüdischer Personen in einem „weißen (westlichen, imperialistischen)
Kollektiv“ gleichsam überwunden und – so die Conclusio – gegenwärtiger
Antisemitismus allein aus der Kompliz_innenschaft zwischen „Secular“
beziehungsweise „Constantine Jewness“ [sic!]
und Kapital, die in der
israelischen Staatsgründung 1948 kulminiert, zu erklären sei (ebd.: 87). Dies
ist historisch falsch und vor dem Hintergrund von NS und Vernichtungsantisemitismus
unhaltbar. Allerdings fügt sich diese Betrachtung logisch in die politische
Programmatik des Beitrages ein und verweist auf deren problematische Elemente.
So ist die der Aussage zugrunde liegende analytische Inkonsistenz – denn
einleitend findet die Shoah ja durchaus Eingang in Mignolos Argumentation,
indem sie als „Choc en Retour“ der Kolonialverbrechen diskutiert wird – meines
Erachtens bedeutsam und eben symptomatisch für die von mir hier kritisierten
de-kolonialen sowie auch für postkoloniale Israelpositionierungen: Die eigene
israelkritische politische Verortung wird dort auf tendenziöse Weise mit der
Analyse von Rassisierungs-Genealogien verquickt und läuft implizit auf ein
Gegeneinander-Ausspielen von Antisemitismus und anderer Formen der Rassisierung
hinaus. Im Abgleich mit zwei differenzierter argumentierenden Beiträgen aus der
gleichen Spezialausgabe von „Human Architecture“, möchte ich meine Kritik noch
genauer untermauern.
Eine andere Argumentationslinie verfolgt
zum Beispiel Santiago Slabodsky, der sich in seinem Beitrag mit
Transformationen des Antisemitismus in Relation zur israelischen Politik auseinander
setzt. Gleich wie Mignolo analysiert Slabodsky die Rassisierung jüdischer
Kollektive als modernes / koloniales Projekt, er betont dabei allerdings auch
aktuellen Antisemitismus, der, wie er kritisch anmerkt, von den meisten
anti-kolonialen israelkritischen politischen Positionen „in einem Vakuum“
belassen - sprich ignoriert - würde (vgl. Slabodsky 2009: 40). Zudem
beschäftigt sich der Autor mit historischen Konjunkturen des Antisemitismus und
nimmt die sich über die Jahrhunderte verändernde „Rolle“ der diskursiven Figur
Jüdin/Jude in den Blick. Er illustriert, wie sich diese im
Kolonialkontext von den „rassisierten Anderen“ zum Kollektiv „imperialer
Agent_innen“ wandelt und geht dabei auf ihre diskursive Funktion als Teil des
ideologischen Überbaus in einem kolonialen imperialistischen Weltsystem ein:
“Rephrasing this phenomenon [the “use” of “Jewishness”, J.E.] from the 16th to
the 20th centuries, the use of the Jew within
colonial discourses takes the following path: first, Jews are being
projected as the paradigm of universal
otherness to comprehend the foreign; second, certain groups are separated
from others in virtue of their “Judaism” in order to reflect an intermediary and advanced force of
imperialism” (ebd.: 45, meine Hervorhebung). Dieser diskursive Wandel, so Slabodsky weiter,
platzierte jüdische Kollektive in eine Art „Mittelposition“ zwischen
Kolonisateur_innen und Kolonisierten, womit sie auch zur Projektionsfläche
antikolonialen Hasses werden konnten. Damit expliziert er aus historischer
Perspektive einen der fundamentalen Unterschiede zwischen der Funktionsweise
von Antisemitismus und kolonialem Rassismus: die Vorstellung einer abstrakten
und allumfassenden jüdischen Macht nämlich, die sich in diesem Fall als
Vorstellung einer „advanced force of imperialism“ manifestiert - ein Topos, der sich in veränderter Form
auch in aktuellen anti-kolonialen Debatten um den israelischen Staat
wiederfindet. Diese wichtige Unterscheidung wird bei Mignolo nicht nur
ignoriert, vielmehr wird der genannte Topos reproduziert. Unbeachtet bleibt bei
ihm daher auch, dass der von Slabodsky beschriebene Formwandel den Prozess der
Rassisierung jüdischer Kollektive im Kolonialkontext selbst in keinster Weise
aushebelt und dass ihm zudem eine Logik des „Teilens und Herrschens“ zugrunde
liegt, die wiederum einen Beitrag zum antisemitischen Ressentiment leisten
kann. Dieses Prinzip des „Teilens und Herrschens“ ist dabei keineswegs nur
diskursiv zu fassen, sondern materialisierte sich auch sehr konkret, wie von
Osten und Karakayali in ihrer Diskussion französischer Kolonialarchitektur in
Casablanca zeigen. Die Autor_innen beschreiben hier die hierarchische Ordnung
der Stadt in „weiße“, „jüdische“ und
„muslimische“ Viertel, wobei zweitere eine Art „Zwischenzone‘“ darstellten und
letztere ganz außerhalb der Kernstadt lagen (vgl. von Osten / Karakayali 2009:
116).
Ein solcher analytischer Zugang, der die
ambivalente differentielle Inklusion jüdischer Kollektive ab dem 19.
Jahrhundert sowie eliminatorischen Antisemitismus thematisiert und damit die
Zuschreibung einer ungebrochenen Kompliz_innenschaft zwischen jüdischen
Kollektiven und Kapital verunmöglicht, ist bislang innerhalb der hier
rezipierten dekolonialen Diskussionen unterrepräsentiert. Prinzipiell
fokussieren diese mehr auf antimuslimischen Rassismus innerhalb der kolonialen
Moderne und zeigen bezüglich der Auseinandersetzung mit Antisemitismus
zusätzlich die Tendenz, ihn ab der israelischen Staatsgründung als
selbstverschuldet zu betrachten (vgl. Gordon,
Grosfoguel & Mielants 2009; Tamdgidi
et al. 2006, 2010). Es wäre meiner Einschätzung nach daher wichtig, solche
Perspektiven zu stärken, nicht zuletzt deshalb, weil sich die eben explizierte
Logik in einigen Texten wiederfindet – beispielsweise bei Mignolo. Slabodsky,
der sich zwar auf Mignolos Arbeiten bezieht, argumentiert daher im Grunde auch
gegenläufig zu diesem, wenn es um Israel und die Rolle von Jüdinnen und Juden
als rassisiertes Kollektiv geht. Anstatt, wie Mignolo, die Figur der/des
„konstantinischen Jüdin/Juden“ in Kompliz_innenschaft mit Kapital und
Imperialismus zu setzen, analysiert er vielmehr die Funktion unterschiedlicher Rassisierungsformen als ideologischen
Überbau der kolonialen Moderne. Mignolo hingegen reproduziert mit einer
verkürzten Rezeption von Marc Ellis´ Kategorie der/des „Constantinian Jew“ und
deren Verbindung mit seiner Israelkritik die von Slabodsky kritisierte Logik
der spezifischen Rassisierung jüdischer Kollektive als „intermediäre und
fortgeschrittene imperialistische Kraft“. Diese Verkürzung möchte ich im
Folgenden illustrieren, indem ich abschließend Mignolos Rezeption mit Ellis´
ursprünglicher Konzeption der/des „Constantinian Jew“ abgleiche.
Marc Ellis beschäftigt sich im gleichen
Band mit Israelkritik aus jüdischer, befreiungstheologischer Perspektive und
differenziert in diesem Zusammenhang drei unterschiedliche politische „jüdische
Subjektpositionen“, die sich für ihn in aktuellen Debatten um Israel,
Antizionismus und Antisemitismus manifestieren. Diese benennt er als
„progressive“, „bewusste“ und „konstantinische Jüdinnen und Juden“ [„Progressive“, „Conscious“ und
„Constantinian Jews“]. Die
beiden ersten Kategorien bezeichnen Personen mit links-liberalen bis
links-radikalen Einstellungen; „Progressive Jews“ sind dabei Post- oder Nicht-Zionist_innen,
die allerdings Israel als jüdischen Staat nicht in Frage stellen, während „Conscious Jews“ – zu denen Ellis sich
offensichtlich auch selbst zählt - dies sehr wohl tun. Ihnen gegenüber steht
die Figur des „Constantinian Jew“, mit der rechts-liberal bis
rechts-konservative und dem israelischen sowie US-amerikanischen Establishment
angehörende Personen beschrieben werden. Ellis kreiert also mit den drei
Begriffen empirische Kategorien,
wobei letztere eine rechts-konservative Subjektposition darstellt, die sich in
realen Personen manifestieren kann oder auch nicht. Das Risiko der Verkürzung,
das jeder empirischen Kategorisierung von Personengruppen zugrunde liegt und zu
Recht kritisiert wird, zeigt sich in Mignolos Rezeption sehr deutlich. In
dieser finden sich nämlich problematische Auslassungen, welche gerade die
letzte empirische Kategorie zu einer essentialistischen Gruppenbeschreibung
ontologisieren. Erstens rezipiert er ausschließlich die/den „Constantinian
Jew“, die/der aktuellen Antisemitismus gleichsam herausfordere, als einzig
erwähnenswerte und damit generalisierte jüdische Subjektposition – eine
Darstellung, die von Ivana Marjanović zu Recht als antisemitisch kritisiert
wird (vgl. Marjanović 2012). Zweitens ist anzumerken, dass Ellis mit seiner
Kategorisierung im Grunde auch auf antagonistische politische Positionen verweist, die sich zum Teil zwar auf jüdische
Geschichte und Identitäten berufen und daraus speisen, aber nichtsdestotrotz
eben politisch sind und daher nicht
ausschließlich aus einer ethno-trans/natio-identitären Perspektive diskutiert
werden können und sollen. Diesen Punkt, der zugegebenermaßen auch bei Ellis
eine recht untergeordnete Rolle spielt,
ignoriert Mignolo in seiner Rezeption der Kategorie „Constantinian Jew“
ebenfalls vollkommen. Drittens legt Ellis ein Augenmerk auf die spezifische Geschichte
jüdischer Rassisierung und vor allem Verfolgung, die er auf die
Transformationen jüdischer politischer Selbstverständnisse und Positionierungen
nach Auschwitz sowie nach der israelischen Staatsgründung umlegt (vgl. Ellis
2009: 109f). Dieser differenzierte Blick verunmöglicht es, aus einer Logik der
Kompliz_innenschaft, wie sie sich bei Mignolo manifestiert, zu argumentieren
und einen unproblematischen, komplizenhaften Übergang vom rassisierten zum
„konstantinischen“ jüdischen Kollektiv zu postulieren.
Abschließend möchte ich
noch auf die argumentative Widersprüchlichkeit hinweisen, dass Mignolos
verkürzte Darstellung jüdischer Emanzipation sowie säkularer und
„konstantinischer“ Jüdinnen und Juden seine eigenen Überlegungen bzgl. des
einleitend diskutierten dekolonialen Gehalts bei Marx in gewisser Weise ad
absurdum führt. Denn wenn bei Marx die unter die Haut gehende rassisierende
antisemitische Unterdrückung und Ausgrenzung zu Gesellschaftskritik führt, so
wird dies bei “Constantinian Jews“ - derer nämlich, die historisch betrachtet
ebenfalls jüdische Emanzipation und „Assimilation“ in ein sie diskriminierendes
Kollektiv vorantrieben, aber eben keine Linksradikalen waren - zu einer
freiwilligen Kompliz_innenschaft mit dem Kapital. Meine Argumentation ist, dass
solche analytischen Inkonsistenzen
nicht zufällig sind, sondern systematisch
in Zusammenhang mit polemischen israelkritischen Positionierungen auftreten.
So konstatieren Mignolo und die anderen Autoren des diskutierten Sammelbandes
durchwegs ein im Verlauf des 20. Jahrhunderts vonstatten gehendes jüdisches
„Aufgehen“ im „weißen Kollektiv“. Aktueller Antisemitismus erscheint in der
Folge weniger schlimm als beispielsweise antimuslimischer Rassismus und wird
als durch die israelische Staatsgründung verursacht diskutiert – wobei meist außen
vor gelassen wird, dass diese ja unmittelbar mit genozidaler antisemitischer
Rassisierung in Zusammenhang steht. Generell folgen die Auseinandersetzungen
also einer Logik der „Betroffenheitskonkurrenz“, die interessanten
Auseinandersetzungen mit historischen Genealogien enden recht abrupt im 20.
Jahrhundert und Analyse wird zu politischer Polemik. Im Folgenden illustriere
ich solche Wendungen anhand politischer Positionierungen zum israelischen
Staat, wobei ich herausarbeiten will, dass strukturell antisemitische
Deutungsmuster in gewandelter Form auf Israel projiziert werden.
3.2 Israel – eine koloniale Supermacht?
Grundsätzlich ist kritisch
anzumerken, dass die von mir rezipierten Beiträge (Ellis 2009; Grosfoguel 2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009) die
israelische Staatsgründung als Grund für das aktuelle Ansteigen eines „neuen
Antisemitismus“ diskutieren. Doch auch wenn empirisch einiges dafür spricht,
dass sie als ein Auslöser für neuen Antisemitismus betrachtet werden kann, so
kann sie sicher nicht zu dessen alleiniger Ursache stilisiert werden. Genau das
passiert allerdings in allen Texten – in Bezug auf Israel wird durchwegs aus
einer schuldzuweisenden Perspektive argumentiert, während aktueller Antisemitismus
in der arabischen Welt beispielsweise ausschließlich als reaktives Phänomen
beziehungsweise gar nicht diskutiert wird. Zudem findet sich bei keinem der
Autoren ein Hinweis auf die politische Bandbreite von Zionismen und somit auch
keinerlei Verweis auf emanzipatorische Ansätze, wie sie beispielsweise rund um
die Gruppe „Brit Shalom“ entwickelt wurden - ganz zu schweigen von deren
Funktion als jüdische nationale Befreiungsbewegung. Dies verwundert aber nicht
weiter, da es Bestandteil der politischen Programmatik der hier rezipierten
Beiträge ist, den jüdischen Staat ausschließlich als installierten Täterstaat
zu konstruieren, der quasi die politische Antithese zur nationalen
Befreiungsbewegung darstellt und somit unmöglich deren Ergebnis sein kann.
Mignolo setzt dieser einseitigen Sichtweise allerdings im Vergleich die Krone
auf, indem er – wie bereits kritisiert - eine direkte Linie von „Constantine
Jews“ [sic!] zur israelischen
Staatsgründung (beziehungsweise kolonialen Installation des Staates) zieht und
diese ahistorische Darstellung an keiner Stelle durch die weitaus komplexeren historischen Informationen unterfüttert,
wie sie beispielsweise Gordon, Grosfoguel und Mielants in ihrer Einleitung zur
Spezialausgabe diskutieren (dies., 2009: 5f). Beispielsweise ignoriert die
postulierte Kompliz_innenschaft mit Kapital und Neo-Kolonialismus die Tatsache,
dass ein Fünftel der Einwanderer_innen ab Mitte der 1930er bis knapp vor der
Staatsgründung aus Flüchtlingen vor dem NS und Überlebenden der Shoah bestand,
weshalb der marxistische israelische Geograph Oren Yiftachel diese auch als
„colonialism of survival“ bezeichnet (Yiftachel 2008: 369; vgl. hingegen für
eine Kritik an der überproportionalen Bewertung dieses Prozentanteils sowie der
Koppelung von Shoah und israelischer Staatsgründung: Brumlik 2007: 28f).
Kritisch zu beleuchten sind auch Mignolos
Positionen zur geopolitischen Rolle des Staates Israel, dessen Existenz er
prinzipiell als durch und durch orientalistisches Projekt, als vom Westen
unterstützte jüdische Kolonisierung Palästinas und damit als politischen
Auslöser für die Herausbildung des postkolonialen Theoriestranges Saidscher Prägung betrachtet (vgl. Mignolo
2007a: 163; 2009b: 41). Darüber hinaus gilt ihm der israelische Staat als ein
Beispiel für eine extreme Ausformung orientalisierender kolonialer
Machtausübung, die aufgrund ihrer außerordentlichen Repression „third spaces“
und Hybridität gleichsam verunmöglicht und somit auf die Zerstörung der
kolonisierten ´Kultur´ hinauslaufen muss (vgl. ders. 2002: 934). Yiftachel
kritisiert die analytischen Schwachpunkte einer solchen „orientalistischen“
beziehungsweise „agambenistischen“ Sichtweise und weist darauf hin, dass diese
die aktuell existierende israelische Hybridität, lokalen antirassistischen
Widerstand sowie die Dialektik von (beidseitiger) Gewalt ausklammert und somit
ein monolithisches, dämonisiertes Bild des israelischen Staates zeichnet (vgl. Yiftachel 2008: 365ff). Dies ist
einerseits eine Folge der kompletten Ignoranz gegenüber post-zionistischer
Hybridität, die neben Checkpoints, rechten Siedlungsprojekten und Sperranlagen
ebenfalls Teil israelischer Realität ist. Gemeinsam mit einem politischen
Diskurs, in dem NS-Metaphern für israelische Politik herhalten, während
Attentate von palästinensischer Seite ausschließlich als legitime antikoloniale
Gewalt erscheinen, schafft dies – so Yiftachel - ein problematisches,
systematisch verzerrtes Bild. An dieser Stelle sei noch kurz angemerkt, dass
der Autor eine alles andere als apologetische Haltung gegenüber dem
israelischen Staat einnimmt – vielmehr analysiert er diesen als „Siedler_innenkolonie“
und „ethnokratisches Regime“ und ist ein langjähriger Kritiker dessen
„schleichender Apartheidpolitik“ (vgl. Yiftachel 2005, 2008). Allerdings – und
das macht meines Erachtens den entscheidenden Unterschied aus – tut er dies
analytisch sowie unter Einbezug historischer Fakten und nicht aus einer
polemischen Perspektive, wie die hier kritisierte. Infolgedessen fokussiert er
in seiner Arbeit auch nicht ausschließlich auf Israel, sondern diskutiert die
israelische Politik komparativ, etwa im Abgleich mit anderen seiner Analyse
nach ethnokratischen Regimen wie Serbien, Sri Lanka oder dem Sudan (vgl.
Yiftachel 2008: 367). Das hier kritisierte „orientalistische“ beziehungsweise
monolithische Zerrbild zieht sich auch durch unzählige anti-israelische
Disinvestment- oder Boykott-Aufrufe und Veranstaltungen wie exemplarisch am -
von Mignolo ebenfalls unterstützten - Aufruf „Boycott Israel? Amitav Ghosh &
the Dan David Prize“
aus dem Jahr 2010 nachvollzogen werden kann. Abgesehen von Fußnoten und
Nebensätzen, die diese kritische politische Position in Bezug auf den
israelischen Staat reflektieren, findet sich in Mignolos Texten allerdings
recht wenig Dezidiertes zum Thema Israel - was seine polemische Conclusio in
„Dispensable and Bare Lives“ allerdings umso befremdlicher erscheinen lässt. Sehr explizit auf Israel fokussiert hingegen
der Beitrag von Ramón Grosfoguel im selben Band, weshalb ich im
Folgenden auch stärker auf seinen Text eingehe.
Grosfoguels
grundsätzliches Argument in seiner Auseinandersetzung mit „Human Rights and
Anti-Semitism after Gaza“ ist jenes, dass die israelische militärische
Intervention im Gaza-Streifen im Dezember 2008 das
symbolische Ende des hegemonialen (westlichen beziehungsweise
euro-amerikanischen) Menschenrechts-Regimes darstelle, da dessen neo-koloniale
Rolle sichtbar geworden sei. Erstens sei die israelische Militärintervention in
Gaza „the most visible example of the colonial consequences of the ´War against
Terrorism´ used today as the main
mechanism of state terrorism around the world to fight liberation movements“ (Grosfoguel 2009: 91, meine
Hervorhebung); damit sei sie also als
Brennpunkt im globalen „Krieg gegen den Terror“ zu verstehen. Zweitens zeigt
sich für Grosfoguel im Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der
Eskalation des Gaza-Konfliktes, dass es sich bei dieser um ein
imperialistisches, US-dominiertes Menschenrechtsregime handle, wodurch die
Frage nach „universellen Menschenrechten“ neu gestellt werden müsse (ebd. 91f). In beiden
Schlussfolgerungen fungiert der israelische Staat diskursiv also als
„Brennpunkt des Weltgeschehens“ und insofern ist Gaza für Grosfoguel auch der
logische historische Ausgangspunkt für eine radikale – und globale - Auseinandersetzung
mit Neo-Kolonialismus und Neo-Imperialismus. Beide Schlussfolgerungen bedienen
– so mein erster Kritikpunkt – strukturell antisemitische
Allmachts-Deutungsmuster.
Weiters postuliert
Grosfoguel in seiner Kritik, dass
Zionismus (und zwar jede Form) nach der Intervention in Gaza endgültig als
„racist, apartheid, settler colonialist project resorting to ethnic cleansing
and Nazi-like atrocities” (ebd.: 92,
meine Hervorhebung) demaskiert sei. Diese polemische Sichtweise verschweigt
wiederum das weite, von ganz links bis ganz rechts reichende, politische
Spektrum unterschiedlicher Zionismen sowie deren historische Veränderung nach
der israelischen Staatsgründung (vgl. Yaʿakovi 2004; Zuckermann 2009). Der marxistische
israelische Soziologe Moshe Zuckermann beispielsweise formuliert eine klare
Kritik an den ideologischen Elementen des staatstragenden Zionismus und sieht
in der Besatzungspolitik ab 1967 die rechte Wende des zionistischen Projektes.
Nichtsdestotrotz negiert er bei seiner Kritik weder die Bandbreite und die
emanzipatorischen Elemente zionistischer Ideen noch deren Funktion als jüdische
Befreiungsbewegung; er selbst bezeichnet sich daher auch nicht als
Anti-Zionist, der das politische Projekt a priori ablehnt, sondern vielmehr als
Nicht-Zionist, der dessen antiemanzipatorische Wende kritisiert.
Innerisraelische radikale linke Kritik zielt laut Zuckermann auf eine
Verbesserung der politischen Situation ab und niemals darauf, den Staat als
ganzes in Frage zu stellen. Insofern beurteilt der Autor auch Diskussionen um
das „Existenzrecht“ Israels als uninformierte Polemik und unzulässige
Einmischung – und dies gilt noch einmal mehr, wenn solche Debatten in
postnazistischen Kontexten wie Deutschland oder Österreich geführt werden (vgl.
Zuckermann 2003: 15/42f). Daher soll an dieser Stelle auch noch einmal explizit
auf den Doppelstandard bei der Bewertung des kollektiven Wunsches nach
nationaler Selbstbestimmung hingewiesen werden, oder, um es mit dem
Konfliktforscher Herbert Kelman auszudrücken: „(…) unter allen
nationalen Befreiungsbewegungen die jüdische nationale Befreiungsbewegung als
von Natur aus rassistisch zu bezeichnen, erscheint mir illegitim und
tatsächlich selbst rassistisch – oder, in anderen Worten, antisemitisch“
(Kelman 2008: 247).
Im
Anschluss an die einseitige Darstellung von Zionismus als rassistische
Staatsideologie fährt Grosfoguel mit einer dramatisch verkürzten, weil
wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem NS und seinem Fortwirken in
postnazistischen Kontexten völlig außer Acht lassenden und daher ideologisch
anstatt analytisch argumentierenden, Diskussion fort, inwieweit „Nazismus“ („Hitlerism“ i.O., eigene Übersetzung) der
adäquate Ausdruck für die israelische Besatzungspolitik sei. Dabei kommt er zu
folgendem Schluss: „Gaza is today the equivalent
continuity of the Warsaw ghetto“ (ebd.: 93, meine Hervorhebung). Nachdem sich
der israelische Staat allerdings zu keinem Zeitpunkt die Auslöschung der
Palästinenser_innen zum Ziel setzte, ist diese Gleichsetzung eine unhaltbare
Relativierung der Shoah. Zudem fügt sich Grosfoguel mit seiner „Analyse“
nahtlos in eine Dämonisierungslogik in punkto Israel ein, die sich global in unterschiedlichsten
linken Kontexten manifestiert und beispielsweise von Nora Sternfeld in Bezug
auf die europäische globalisierungskritische Bewegung problematisiert wurde
(vgl. Sternfeld 2006).
Abgesehen von
der notwendigen Kritik derartiger Analogien, müsste einer solcherart
relativierenden Polemik meines Erachtens mit informierten Analysen der
Besonderheit des NS sowie mit einer theoretisch fundierten Auseinandersetzung
mit Transformationen des Antisemitismus nach 1945 begegnet werden – eine
Perspektive, die den hier kritisierten dekolonialen Ansätzen fehlt.
Konsequenterweise schafft Grosfoguel in seiner Conclusio dann auch
„Antisemitismus“ als analytische Bezeichnung für die spezifische Form der
Rassisierung von Jüdinnen und Juden gleich ganz ab, indem er erstens rundheraus
behauptet Antisemitismus sei in jeder Hinsicht von antimuslimischem Rassismus
abgelöst worden und letzteren zudem als „anti-Arab/Muslim anti-Semitism“
bezeichnet (Grosfoguel 2009: 96). Das gleichzeitige Gegeneinander-Ausspielen
und analytische Verwischen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus
ist eine in den hier rezipierten dekolonialen Debatten verbreitete
Argumentationslinie, die an das diskursive Element der Allmachtphantasien
anknüpft und dieses sozusagen umkehrt, indem behauptet wird, muslimische
Kollektive hätten die Rolle des gleichzeitig globalen und inneren Feindes
übernommen. Dadurch wird auf rhetorischer Ebene Antisemitismus negiert und die
Negation mit dem aktuell virulenteren antimuslimischen Rassismus legitimiert.
Dessen prinzipielle Virulenz soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden,
ebenso wenig wie die Tatsache, dass zumindest im europäischen hegemonialen
Migrationsdiskurs Überschneidungen zwischen antisemitischen Deutungsmustern und
der aktuellen „Angst vor schleichender Islamisierung“ sowie vor dem ständig
wachsenden, in „parallelgesellschaftlichen Staaten im Staat“ wohnhaften
„inneren (islamistischen) Feind“ bestehen. Allerdings bleibt, wie empirische
Untersuchungen während der aktuellen Finanzkrise zeigen, der Topos der
„Weltverschwörung“, also eines machtvollen, weltumspannenden Netzwerkes mit
Vernichtungspotenzial, weiterhin ausschließlich jüdisch konnotiert (vgl.
Bischof / Stögner 2011). Eine politische Polemik wie die von Grosfoguel ist
also insofern problematisch, als sie auf der Logik einer Opferkonkurrenz basiert
und dadurch die notwendige analytische Differenzierung zwischen den
unterschiedlichen Rassisierungsformen in Frage stellt.
Das
Ignorieren beziehungsweise Negieren von aktuellem Antisemitismus ist meiner
Ansicht nach symptomatisch für viele de- und postkoloniale politische
Positionierungen, die ihre Analysen mit Israelkritik vermischen und den
israelischen Staat ausschließlich als „Täterstaat“ in Kompliz_innenschaft mit
Kapital und neo-kolonialem Weltsystem betrachten. Nachdem dies allerdings –
wenn auch auf unterschiedliche Weise - für alle Staaten (einschließlich der
wenigen übriggebliebenen kommunistischen) gilt, möchte ich an dieser Stelle
wieder auf die analytische Inkonsistenz hinweisen. Dabei sollen natürlich nicht
neokoloniale Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen globalem Süden
und Norden negiert, sondern lediglich in Erinnerung gerufen werden, dass sich
kein Staat außerhalb des neoliberalen kapitalistischen Weltsystems befindet und
dessen nationale Eliten diesem insofern „komplizenhaft“ verbunden sind. Die
hier kritisierte verabsolutierende Logik fußt daher meines Erachtens auf einer
strukturell antisemitischen Personalisierung von Kapital. Diese funktioniert
allerdings nicht in der altbekannten Form des „jüdischen Bankiers“ oder des „jüdischen
Finanzkapitals“, sondern in der Figur der/des „Constantinian Jew“, die in
Mignolos Polemik beispielsweise gleichermaßen für Israel stehen kann wie auch
für ein imperialistisches, neo-koloniales Weltsystem. Diese Tendenz, Israel auf problematische Weise zum Dreh-
und Angelpunkt für geopolitisches Weltgeschehen und die Position zu dem Staat
damit zum linken Lackmus-Test zu stilisieren, ist allen Beiträgen des erwähnten
Sammelbandes sowie auch aktuellen de- und postkolonialen Debatten gemeinsam. Um
dieses derzeit grassierende und beunruhigend einseitige Nahost-Expert_innentum kritisch zu beleuchten, schlage ich daher im
Folgenden mögliche Anschlussfelder für eine weitergehende Diskussion vor.
4.
Is it or is it not? Abschließende Bemerkungen zu innerlinken
Debatten um Antisemitismus und Rassismus
Abschließend beziehe ich die hier
rezipierten dekolonialen Diskussionen zurück auf die eingangs erwähnten Wiener
Debatten, wobei es mir auch darum geht, spezifische Dynamiken innerlinker
Debatten um Antisemitismus im postnazistischen Raum zu skizzieren. Aufbauend
auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen möchte ich „Dead Ends“ der
Auseinandersetzung zur Diskussion stellen, um einen neuen Raum für
Auseinandersetzungen zu eröffnen.
Angesichts
des meiner Meinung nach symptomatischen sowie problematischen Fokus auf Israel
rege ich zunächst prinzipiell an, den Schwerpunkt der Auseinandersetzung in zweierlei Hinsicht zu verschieben: Zum einen ginge es darum, danach zu
fragen, wann und wieso Israel seinen
aktuellen Symbolcharakter annimmt und zum „Brennpunkt“ von globalem
Neo-Kolonialismus und Imperialismus wird. Zweitens wäre es angebracht, sich mit
potenziell (und auch faktisch)
antisemitischen Effekten einer solchen einseitigen Nahost-Expertise auseinander
zu setzen. Dazu wäre eine weitere Auseinandersetzung mit den hier kritisierten
analytischen Inkonsistenzen notwendig, wobei problematische Deutungsmuster mit
dem Analyseinstrument „struktureller Antisemitismus“ herausgearbeitet werden
könnten. In diesem Sinn soll mein Beitrag auch weitere Diskussionen,
Widerspruch, etc. anstoßen, um eine differenzierte Debatte voranzutreiben.
In
dem Zusammenhang finde ich es auch wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass
Auseinandersetzung über antisemitische Deutungsmuster in linken/linksradikalen
Kontexten weder ein neues noch ein ausschließlich de- oder postkoloniales
Phänomen sind. Vielmehr haben solche Debatten in postnazistischen linken
Kontexten eine jahrzehntelange Geschichte und kulminierten sicherlich mit dem
Entstehen der so genannten „antideutschen“ Kritikströmung und deren harscher
Kritik an antiimperialistischer Palästinasolidarität ab Beginn der 1990er
Jahre. Der Ablauf solcher Auseinandersetzungen weist dabei meiner Beobachtung
nach spezifische Dynamiken auf, die zu Frontstellungen und damit zu Dead Ends
der Auseinandersetzung führen können. Prinzipiell entstehen diese innerhalb
zweier Auseinandersetzungsfelder, von denen ich eines in Anlehnung an
Messerschmidt (2008) als „Erinnerungs- oder Betroffenheitskonkurrenzen“
bezeichnen würde und das zweite als Spannungsfeld bezüglich des
Analyseinstrumentes „struktureller Antisemitismus“. Ich beende meinen Text mit
einer kurzen Reflexion dazu
und beschreibe spezifische Auseinandersetzungsmechanismen, um eine weitere Diskussion darüber anzuregen.
„Erinnerungs-“
oder „Betroffenheitskonkurrenzen“ treten meist im Überschneidungsfeld
antirassistischer Kritik und Kritik am Antisemitismus auf und sind damit Teil
politischer Auseinandersetzungen in einer postkolonialen und postnazistischen Migrationsgesellschaft.
Sie manifestieren sich unterschiedlich, funktionieren jedoch prinzipiell so,
dass Rassismus und Antisemitismus und damit das Ausmaß der jeweiligen
Betroffenheit von der spezifischen Rassisierung gegeneinander „aufgewogen“ werden.
Das kann sich einerseits in erinnerungspolitischen Debatten äußern, in denen es
darum geht, ob die Shoah oder der Kolonialismus das „schlimmere“ Verbrechen
gewesen sei, ob in diesem Zusammenhang die These der Besonderheit und
Einzigartigkeit der Shoah zu halten sei oder eine rein eurozentristische
Perspektive widerspiegeln würde oder inwieweit der Fokus auf die Erinnerung der
Shoah die Auseinandersetzung mit Kolonialismus verhindern würde. In
Migrationsdebatten äußert sich diese Konkurrenzstellung in Diskussionen darüber,
ob und inwieweit der Vorwurf des Antisemitismus von der Mehrheitsgesellschaft
auf Minderheiten – in diesem konkreten Fall muslimische Minderheiten -
ausgelagert würde sowie in diesem Zusammenhang auch darin, ob Antisemitismus im
letzten Jahrzehnt von antimuslimischem Rassismus abgelöst worden sei. Die
extremeren Ausformungen solcher Debatten laufen dabei darauf hinaus,
Antisemitismus als Analysekonzept zu dekonstruieren – eine Position, die sich
beispielsweise bei Grosfoguel findet. In der Gegenposition wird Rassismus gegen
muslimische Personen bagatellisiert beziehungsweise zuweilen auch als
inexistent, weil nicht auf biologistischen Argumentationslinien fußend,
bezeichnet – diese Extremposition findet sich in einigen antideutschen politischen
Kontexten. Beide Dynamiken folgen dabei der Logik eines Nullsummenspiels, nach
der die eine Form der Rassisierung vor der Konkurrenz der anderen „gerettet“
werden muss. Dies ist allerdings einer analytischen Diskussion über notwendige
Differenzierungen sowie beobachtbaren Überschneidungen zwischen den beiden
Rassisierungsformen einigermaßen abträglich. Krude wird es zudem dann, wenn
sich die Nullsummenlogik mit Israelkritik vermischt und im Extremfall Analogien
zwischen NS und dem israelischen Staat gezogen werden – auch dies kann bei
Grosfoguel nachgelesen werden. In dem Zusammenhang ist eine weitere Dynamik
relevant, die dann entsteht, wenn antisemitische Äußerungen von einer selbst
von Rassismus/Rassisierung betroffenen Person geäußert werden. Auch hier zeigt
sich gruppendynamisch eine Nullsummenlogik, die sowohl das Benennen von
Antisemitismus als auch eine weitere Auseinandersetzung damit erschwert bis
verunmöglicht. Dies hängt nicht zuletzt auch mit der oben beschriebenen Ausgangslage
zusammen, dass die Betroffenheit von Rassismus/Rassisierung und Antisemitismus
gegeneinander aufgewogen werden und letzterer angesichts des aktuellen
Migrationsregimes implizit als weniger schlimm anstatt als aktuell weniger
virulent betrachtet wird.
Das zweite Auseinandersetzungsfeld
betrifft Debatten rund um das analytische Konzept „struktureller
Antisemitismus“, das bei Weitem kein unumstrittenes ist. In
linken/linksradikalen Kontexten wurde das Konzept hauptsächlich von
antideutschen Aktivist_innen bekannt gemacht und wird daher auch stark mit
diesen – zum Großteil wertkritisch verorteten - Positionen assoziiert. Bei
Debatten über „strukturellen Antisemitismus“ beziehungsweise „verkürzte
Kapitalismuskritik“ werden von deren Kritiker_innen mehrere Punkte bemängelt.
Zum einen wird argumentiert, dass es sich bei der Wertkritik um eine ihrerseits
verkürzte Marxrezeption handle, in der nur die ersten Kapitel von Marx´ Kapital
Eingang fänden. Sehr kritische Positionen halten das Aufzeigen einer verkürzten
Kapitalismuskritik für eine schlichtweg falsche Analyse und die Kritik an
linkem Antisemitismus tendenziell für übertrieben und hysterisch. Ein Element
der hier beschriebenen Auseinandersetzungen sind Diskussionen darüber,
inwieweit die jeweils kritisierte politische Artikulation (sei es eine Aussage,
eine Handlung, ein Flyer, etc.) tatsächlich antisemitisch - beziehungsweise
umgekehrt formuliert - inwieweit die geäußerte Kritik daran übertrieben sei.
Solche Argumentationsmuster finden sich auch in den aktuellen Wiener Debatten
und Reaktionen auf den offenen Brief Eduard Freudmanns wieder. Während der
analytische Beitrag Ivana Marjanovićs bislang leider keine Reaktion hervorrief,
wurden auf dem Blog „Antisemitismus! Was
tun?“ einige durchaus emotionale Kommentare zu dem Brief gepostet. In der
Antwort von Jens Kastner und Tom Waibel sowie in anonymen Kommentaren, wird der
Autor dabei als hysterischer Selbstdarsteller bezeichnet, der als „Superjew“
identitäre Politik ohne Argumente, dafür aber mit viel „Profilierungssucht“,
betreibe und „mignolosche Dummheiten“ aufbausche.
Aufgrund der stark desavouierenden Rhetorik möchte ich daher zunächst einmal
eine Prämisse in Erinnerung rufen, die für jede
Kritik diskriminierender Rassisierung gilt: Setzt sich eine davon betroffene
Person dagegen zur Wehr, dann ist diese Intervention grundsätzlich ernst zu
nehmen, da ein Herunterspielen der Kritik die Gewalt letztendlich perpetuiert!
Darüber hinaus will ich mit meiner Analyse dekolonialer Debatten zu neuem
Antisemitismus darauf hinweisen, dass Eduard Freudmann auch keineswegs ein paar
einzelne „Dummheiten“ kritisiert. Vielmehr handelt es sich um politische
Artikulationen, die sich zum Teil antisemitischer Deutungsmuster bedienen und
systematisch auftreten, wenn de- beziehungsweise postkoloniale Israelkritik und
die Analyse aktueller Rassisierungsformen zusammen fallen.
Das Analysekonzept „struktureller
Antisemitismus“, verstanden als diskursanalytische Ressource zur
Auseinandersetzung mit politischen „Frames“, ermöglicht es, solche „Dummheiten“
als sich wiederholende Deutungsmuster zu analysieren und ist somit meiner
Ansicht nach ein wichtiges Instrument für innerlinke Selbstreflexion. Daher
will ich abschließend kurz zur Diskussion stellen, warum dieses analytische
Tool meines Erachtens teilweise heftig umstritten ist. Zum einen ist
prinzipiell davon auszugehen, dass das Benennen von Antisemitismus zu
Abwehrreaktionen führt. Mich interessiert hier aber eine andere Dynamik, denn
ein weiteres auslösendes Moment vieler Debatten ist meiner Beobachtung nach die
Tatsache, dass das Konzept als „Angriff“ auf kapitalismuskritische Positionen
verstanden wird; eine Wahrnehmung, zu der nicht zuletzt der Name beiträgt. Die
Bezeichnung „strukturell“ wird nämlich mitunter so verstanden, als analysiere
Postone jede Form der
antikapitalistischen Kritik als antisemitisch, was nicht der Fall ist. Die
Kritik kann dabei bis zu der politischen Einschätzung reichen, dass eine
Anwendung des Konzeptes jede Kapitalismuskritik
verunmögliche, da auf einmal alles strukturell antisemitisch sei. Dieser
Standpunkt hat insofern etwas für sich, als extreme antideutsche Positionen
tatsächlich dazu tendieren, Antisemitismus so schnell zu orten, dass der
analytische Wert des Konzeptes dabei Schaden nimmt – ganz zu schweigen von dem
Schaden, den dies einer Kritik an globalisiertem Kapitalismus und
Neo-Kolonialismen zufügt. Dies ändert jedoch nichts an der wichtigen
analytischen Perspektive auf antisemitische Deutungsmuster, die das Konzept
eröffnen könnte, würde es nicht als Frontalangriff auf Kapitalismuskritik
verstanden und abgewehrt werden.
Sowohl die obige Diskussion
problematischer dekolonialer Texte als auch die Illustration innerlinker
Debatten verweisen meiner Meinung nach auf die Notwendigkeit einer analytischen
Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der de- und post-kolonialen linken
Theoriebildung und politischen Praxis – dies allerdings aus einer solidarischen
Perspektive. Dabei würde es darum gehen, „entfernte Verbindungen“, also
historische Genealogien und Überschneidungen sowie das Ineinanderwirken und das
Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Rassisierungsformen zu untersuchen,
ohne dabei in Betroffenheitskonkurrenzen zu verharren. Voraussetzung hierfür
wäre meiner Meinung nach eine weniger einseitige Analyse von Antisemitismus in
de- und postkolonialen Kontexten und in diesem Zusammenhang wäre es
grundsätzlich einmal wichtig, eine analytische Auseinandersetzung mit der
Spezifik von NS und Vernichtungsantisemitismus anzuregen. Teil dieses Prozesses
sollte zudem auch sein, das Konzept des strukturellen Antisemitismus als
analytische Ressource zu begreifen, anstatt als Fundamentalkritik. So behaupte
ich ja auch in meiner Kritik an keiner Stelle, das Projekt
Modernität/Kolonialität, oder Weltsystem- und Dependenztheorie
seien per se strukturell
antisemitisch, sondern streiche vielmehr problematische Elemente dieser
kritischen Traditionen heraus. Das gleiche trifft auch auf Eduard Freudmanns offenen
Brief und Ivana Marjanovićs kritische Analyse zu - keine der beiden Interventionen
muss als „Rezeptionsverbot“ gelesen werden und es stellt sich die Frage, warum
diese Leshaltung zumindest in Bezug auf den offenen Brief so eindeutig
eingenommen wurde. Denn meiner Ansicht nach soll sehr wohl kritisiert und
diskutiert werden können, dass Antisemitismus als diskursive Ressource zur
Welterklärung dient; im Falle des strukturellen Antisemitismus als Erklärung
des ausbeuterischen und ungerechten kapitalistischen Systems. Insofern ist eine
Diskussion darüber auch kein Angriff, sondern ein Beitrag zu
antikapitalistischer linker Theorie und Praxis und sollte daher auch weiterhin
geführt werden.
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